A. R. Penck
"Theorie in Hamburg, NÄHE FERN gesehen, FERNE nahgesehen, WELT GESCHEHEN, WELT VERSTEHEN"
1989
1


Wandmalerei, 25 x 18 Meter


In direkter Nachbarschaft zur Staatsbibliothek Hamburg und nahe des Uni-Geländes bemalte 1989 der Künstler A. R. Penck die freistehende und fensterlose Seitenfassade eines Wohnhauses. "Theorie in Hamburg", so der Titelanfang des Bildes, nimmt Bezug auf den Wissenschafts- und Forschungsstandort Hamburg. Seine Fortsetzung scheint ihm zu folgen, indem er eine makro- und mikrokosmische Perspektive suggeriert: "NÄHE FERN gesehen, FERNE nahgesehen, WELT GESCHEHEN, WELT VERSTEHEN". Allein was an dem Titel verblüfft, ist die ungewöhnliche und eher unwissenschaftliche Koppelung von nah und fern. Denn Nähe und Ferne sollen hier in umgekehrten Verhältnis zueinander betrachtet werden.

Optisch dominieren in dem Bild tatsächlich zwei Größenordnungen. In einer Vielzahl von Motiven stechen vor allem zwei Figuren - eine rote links und eine schwarze rechts - durch ihre Überdimensionierung hervor. In die Ferne des Hintergrunds gerückt hingegen füllen unterschiedlichste Motive die Fassade flächendeckend aus. Unter ihnen befinden sich religiöse Zeichen - eine Kirche, eine betende Figur, eine klerikale Person mit zahlreichen Kreuzen oder eine nackte Buddhafigur. Hinzu kommen weltliche Symbole, wie ein Dollarzeichen, das Paragraphensymbol oder Gesichter, deren Stilisierungen verschiedene Nationen und Kontinente in Erinnerung rufen. Sie alle sind Zeichen des Weltgeschehens, das uns nahe umgibt, sich aber hier in der Ferne verliert.

Wenn der Titel das WELT VERSTEHEN ebenso wie das WELT GESCHEHEN zu visualisieren verspricht, dann konkretisiert sich ersteres im gemeinsamen Gegenstand der beiden großen Figuren. Beide umschließen eine große rote Weltkugel, deren Inneres mit fünf Unbekannten in Form von fünf x'en ausgefüllt ist. So versuchen sich die Figuren der großen Unbekannten, die die Welt darstellt, begreifend anzunähern, jedoch auf verschiedene Weise. Die rote Figur eignet sich ihr Wissen theoretisch, wortwörtlich über ihren Kopf an, worauf ein roter Keil verweist, der in ihr Haupt eindringt. Hingegen betrachtet die schwarze Figur die Welt aus einer überschaubaren Distanz heraus. Und ihr Zugang auf sie markiert einen großen Scheideweg nach rechts oder links, nach dem Kopf der Theorie unten oder dem Weltbild des universellen Kreislaufs mit seinen Unendlichkeitsmetaphern oben, worauf ihre gegabelten Finger weisen. Zudem nimmt die schwarze Figur das Wissen der anderen mehr emotional, über den 'Bauch' auf, so wie es ein weiterer Keil andeutet, der ihr in den Nabel fährt. Schließlich ist die rote Figur wie eine Gliederpuppe aus Einzelteilen aufgebaut, während sich die schwarze als ganzheitliche Figur aus einer einzigen Konturlinie präsentiert. So mag man in diesem 'Kampf' um die Weltaneignung die Gegensätze von Wissenschaft und Intuition, von Theorie und Poesie wiedererkennen.

Mit seinem Wandbild hat Penck eine offene Komposition geschaffen, für die die hier angedeutete Auslegung nur eine von vielen ist. Doch zeichnet gerade das Werk von Penck eine permanente Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen und künstlerischen Bildentwürfen aus. Schon sehr früh hat der 1939 in Dresden geborene Künstler Welt- und Systembilder komponiert, in denen er mit wenigen Chiffren unter anderem so globale Polaritäten wie die ehemaligen Ost- und Westsysteme zur Anschauung brachte. Bekannt ist von Penck auch seine "Standart". Mit Hilfe von einfachen Symbolen, und inspiriert von den Wissenschaften der Kybernetik und der Mathematik, versuchte der Künstler eine Bildsprache eingängiger Signale zu schaffen, die eine allgemeinverständliche Kommunikation ermöglichen sollten. In ihr spielt auch das sooft bei Penck auftauchende Strichmännchen eine entscheidende Rolle (im Hamburger Wandbild ist es unter anderem oben links in dreifacher Ausführung zu sehen). Es fungiert als Handlungsträger in dem Sinne, das jede seiner körperlichen Gesten und Gebärden einer geistigen Haltung entspricht.

Anfang der 70er Jahre schloß Penck seine Arbeit mit "Standart" ab. Verstärkt wandte er sich nun einer mehr künstlerischen, bis ins Expressive gesteigerten Bildsprache zu. Nach seiner Übersiedlung in den Westen 1980 aber nahm er "Standart" in Form von "Standart-West" wieder auf. Die Erfahrung mit der neuen Gesellschaftsform wurde so wieder in ein neues Sprachsystem überführt.

Penck hat einmal von fünf verschiedenen Bildtypen, vom zeichenhaften über den figurativen bis hin zum destruktiven gesprochen, die sich in seiner Kunst zu einem komplexen Sprachsystem verdichten. Mit ihm verfolgt er einen Weg zwischen nüchterner Analyse und künstlerischer Anschauung. "Ich will", so Penck, "die Dinge darstellen in ihrer Wirkung oder Bewegung. Ich bin da ein ganz neutraler wissenschaftlicher Beobachter, ich registriere das."
Wolf Jahn


Standort:
Giebelwand eines Wohnhauses in der Schlüterstraße neben dem Eingangsbereich der Staats- und Universitätsbibliothek -
Nähe Bahnhof Dammtor, Fern- und S-Bahn-Anschlüsse (S21/S31); Buslinie 102, Richtung Niendorf-Markt, Station Staatsbibliothek

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