Clegg & Guttmann
"Die offene Bibliothek"
September/Oktober 1993
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Die beiden amerikanischen Künstler Michael Clegg und Martin Guttmann (beide 1957 geboren) realisierten im Herbst 1993 ihr Projekt "Die offene Bibliothek". Drei große Schaltkästen aus Kunstgranit, wie sie durch die Hamburgischen Electricitätswerke zu tausenden in der Stadt zur Steuerung von Ampel- und Lichtanlagen aufgestellt sind, wurden ihrem ursprünglichen Verwendungszusammenhang entzogen und nach Umrüstung in einen neuen Funktions- und Kommunikationskontext als offene Bibliotheken den Bewohnern dreier ausgewählter Stadtteile Hamburgs zur freien Benutzung zur Verfügung gestellt. Der Wahl der Standorte Kirchdorf-Süd, Barmbek und Volksdorf lag eine Recherche über die Sozialstrukturen der jeweiligen Umfelder zugrunde.

Das gesamte Projekt wurde von einer Studentengruppe der Universität Lüneburg, Fachbereich Angewandte Kulturwissenschaften unter der Leitung des Soziologen Dr. Ulf Wuggenig unterstützt und durch eine soziologische Studie über die Nutzung der "offenen Bibliotheken" und das Benutzerverhalten begleitet.

Bereits im Juni hatten Clegg & Guttmann gemeinsam mit den Lüneburger Studenten im Umfeld der Standorte durch Flugblätter und persönlichen Kontakt von Haustür zu Haustür die Anwohner über das Projekt informiert, Interviews durchgeführt und insgesamt knapp 1000 Bücher als Bibliotheksgrundstock gesammelt. Alle Bücher wurden inventarisiert. Im gleichen Monat fand auch eine öffentliche Vorpräsentation und Diskussion im Kunstverein in Hamburg statt, zu der alle Anwohner eingeladen waren.

"Die offene Bibliothek" funktionierte ohne Bibliothekare und Personal. Sie war rund um die Uhr zugänglich. Jeder konnte zu jeder Zeit Bücher entleihen und sie nach angemessener Zeit wieder zurückstellen oder den Bücherbestand der Bibliothek durch eigene Bücher erweitern.

"Eine solche Bibliothek könnte als Institution zu einer Selbstdefinition der Gemeinschaft beitragen; sie würde ihre Lesegewohnheiten und intellektuellen Vorlieben widerspiegeln und wäre damit eine Art Porträt einer Gemeinschaft" (Clegg & Guttmann). Kunst versteht sich hier vor allem als sozialer kommunikativer Vorgang. Der komplexe Prozeß der provozierten Selbstorganisation der Gemeinschaft der Bibliotheksbenutzer läßt sich als soziale Skulptur deuten.

Während der Laufzeit des Projektes wurde in den neuen Räumen des Kunstvereins innerhalb der Ausstellung "Backstage", zu der Clegg & Guttmann eingeladen waren, eine Informations- und Dokumentationsstelle als Bestandteil des "Kunst im öffentlichen Raum"-Projektes eingerichtet.

Die Bibliothek in Barmbek und vor allem die in Volksdorf, wo sich eine Bürgerinitiative für den Erhalt der Biblothek gebildet hatte, wurden von den Anwohnern sehr gut angenommen. In Kirchdorf-Süd allerdings wurden die Bücher mehrfach en bloc entwendet, die Bibliothek attackiert und schließlich zerstört.

Bereits 1991 führten Clegg & Guttmann ein ähnliches Projekt in Graz und 1994 ein weiteres in Mainz durch.

A. K.

Literatur:

Achim Könneke (Hg.): Clegg & Guttmann. Die offene Bibliothek. The Open Public Library, Ostfildern-Ruit bei Stuttgart 1994

der AKKU e.V. (Hg.): Clegg & Guttmann. Breaking Down the Boundaries to Life. Avantgarde Practice and Democratic Theory, Wien 1995


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