Ian Hamilton Finlay
"Die Heimat ist nicht das Land - sie ist die Gemeinschaft der Gefühle"
1996

Unter dem Titel "Proposal for a Kunsthalle" hat Finlay 1993 eine Schriftarbeit vorgeschlagen, die zuerst in gedruckter Version in der französischen Zeitschrift "Digraphe" erschienen ist. Sie beruht auf einem Satz von Louis Antoine Saint-Just (1767-94): "La patrie n'est pas le sol, elle est la communaute des affections" / "Die Heimat ist nicht das Land ­ sie ist die Gemeinschaft der Gefühle". Er erscheint in deutscher, englischer, französischer und spanischer Sprache. Die Buchstaben ­ 50 Zentimeter hohe Versalien aus grauem Granit ­ sind in die jeweils einen Quadratmeter großen rötlichen Granitplatten eingelegt. Die Schriftzüge gestalten das Plateau zwischen dem Altbau und der Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle und umfassen ein Quadrat von 30 Metern Seitenlänge.

Finlay, 1928 auf den Bahamas geboren, begann als Dichter und stand um 1960 der internationalen Bewegung der visuellen Poesie nahe. Doch es drängte ihn zunehmend zu Ausdrucksformen, die der bildenden Kunst näherstehen. Hier ist er Autodidakt. Die Graphiken, Skulpturen oder Installationen werden stets von Handwerkern nach Finlays Entwürfen hergestellt. Seinen Landsitz bei Edinburgh, den er "Little Sparta" getauft hat und seit dreißig Jahren fast nicht mehr verläßt, hat er zu einem Gesamtkunstwerk in der Tradition der Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts gestaltet.

Viele Arbeiten Finlays spielen auf die französische Revolution an. Saint-Just, eine ihrer janusköpfigsten Gestalten, wurde mit seinem jugendlichen, kämpferischen Moralismus zu einer Art Identifikationsfigur für den Künstler. Er setzt Saint-Just in Bezug zu anderen Gestalten, etwa Apoll.

Finlay ist ein radikaler Kritiker der heutigen Kultur, in der ihm der Zusammenhang von Moral und Ästhetik fehlt. Die Welt könne weit schöner und harmonischer sein, wäre sie nach den Entwürfen der größten Künstler ausgerichtet.

Doch entgeht Finlay nicht die Doppelgesichtigkeit der Geschichte, in der der Versuch nach Verbesserung der Welt stets mit Gewalt und Blutvergießen einherging. Der Zwiespalt der Kultur findet sich auch ästhetisch wieder. Klassizismus war offizieller 'Stil' der französischen Revolution, aber auch im Dritten Reich. Als Finlay für einen Revolutionsgarten in Paris bei einer Inschrift auf einem Stein SS-Runen verwenden wollte, geriet er in den Verdacht, Neofaschist zu sein und verlor den bereits erteilten Auftrag zur 200-Jahr-Feier. Finlays Aufspüren ästhetischer und historischer Ambivalenzen enträt den Anforderungen politischer Repräsentation, er ist ein unbequemer Querdenker.

Auch ästhetisch läßt sich sein Werk in keine bestehenden Richtungen einordnen, auch wenn Parallelen zur schriftbezogenen Concept Art erkennbar sind. Doch von den semiotischen Wortspielen Lawrence Weiners trennen Finlay Welten. Dies macht schon die Typographie deutlich: Man stelle sich Weiners Sätze mit Finlays Serifenschrift vor.

Daß ein Werk Finlays den ansonsten leeren Platz vor dem Neubau der Hamburger Kunsthalle gestaltet, hat wesentlich mit der Vorliebe des Architekten Oswald Mathias Ungers für sein Werk zu tun. Ungers beauftragte ihn mit der künstlerischen Gestaltung seiner Hausbibliothek in Köln. Wie Finlay bezieht sich auch Ungers auf den Zusammenhang von Klassizismus und französischer Revolution. Die klare, geometrische Form der Galerie der Gegenwart ist von den Entwürfen der 'Revolutionsarchitekten' Boullée und Ledoux inspiriert. Die Verbindung von Vorplatz und Gebäude wird auch dadurch unterstrichen, daß der Platz wie ein Pyramidenstumpf den quadratischen Grundriß des Baus wiederholt sowie dadurch, daß - vom Platz aus sichtbar - im Eingangsbereich Finlays "Saint-Just: Äußerungen" (1991-94) plaziert sind: fünf identische Porträtbüsten aus Gips, versehen mit fünf verschiedenen Aussprüchen Saint-Justs.

Trotz der engen Verzahnung von Ungers' Architektur mit Finlays Werken läßt sich der Künstler nicht auf die formimmanentere Philosophie des Architekten reduzieren. Auch wenn Finlay den Platz nie in Wirklichkeit gesehen hat, scheint es doch so, daß er die Unwirtlichkeit, die der Ort ausstrahlt, mit Saint-Just immer noch modern wirkender Definition des Heimatbegriffs bewußt ein wenig konterkariert.

Ludwig Seyfarth


Literatur :

Yves Abrioux: Ian Hamilton Finlay. A visual primer, London 1992

Zdenek Felix; Pia Simig (Hg.): Ian Hamilton Finlay. Plastiken in situ, Stuttgart 1995




Standort:
Plateau zwischen der Galerie der Gegenwart und dem Altbau der Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall

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