"mundgerecht" 1997 |
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Kunst in vier Hamburger Kantinen. Konzipiert und organisiert von Tonia Kudrass, Thomas Strodel und Annette Venebrügge. Kantinen sind Treffpunkte, zentrale Umschlagsplätze von Informationen, ein Medium hierarchiefreier Kommunikation. Kantinen sind auch Gerüchteküchen; hier werden Intrigen gesponnen, Gemeinschaftsgefühle inszeniert und Entscheidungen der kurzen Wege getroffen - die Kantine ist ein politischer Ort! Als ein Projekt im Rahmen der Kunst im öffentlichen Raum erschloß "mundgerecht" diese spezifischen Orte, machte sie zu Orten der öffentlichen Aufmerksamkeit. Ausgangspunkt war die vergleichende Reflexion der Räume selbst, ihrer Ausstattung und Inszenierung, ihrer Funktionen und der in ihnen sichtbaren und versteckten Verhaltensnormen und Rituale. Die Siemens AG, die deutsche Unilever GmbH und die Hanse-Merkur Versicherungsgruppe, die unterschiedliche Teilbereiche der Wirtschaft repräsentieren sowie die Justizbehörde, als Institution des öffentlichen Dienstes, stellten ihre Kantinen beziehungsweise ihr Kasino (Siemens), ihre Betriebsrestaurants (Unilever, HanseMerkur) als Ausstellungsorte zur Verfügung. Das unterschiedliche Profil der Betriebe prägt den Stil der Speisestätten. Drei Bezeichnungen tauchen für die ausgesuchten, funktional identischen Orte auf - Kantine, Betriebsrestaurant, Kasino, und doch handelt es sich hier nicht einfach um unterschiedliche Begriffe für gleiche Einrichtungen. Kulturelle Welten trennen die Kantine, den unvermeindlichen Ort ökonomisch-rationaler Befriedigung elementarer Ernährungsbedürfnisse der abhängig Beschäftigten, von dem Kasino, dem Kommunikations- und Entfaltungsraum freier gesellschaftlicher Individuen, der quasi als Mehrwert den angenehmen Service einer gepflegten Mahlzeit bietet. Es ist geradezu ein Spiegel der fehlenden oder nicht gezielt inszenierten Corporate Identity, daß die Behörde eine Kantine bewirtschaftet, die nicht nur eine dem Klischee entsprechende Einrichtung aufweist, sondern in dem verschachtelten Gebäudekomplex auch kaum zu finden ist, während der Großkonzern mit strategischer Unternehmensphilosophie (und ambitioniertem Kulturkonzept) die Identifikation und Motivation seiner Angestellten mit einem Kasino- bzw. Betriebsrestaurant-Image gezielt fördert. Erst die Differenzierung legt Bedeutungen frei, und wie überall sind auch hier die feinen Unterschiede die wesentlichen. Trotzdem sind diese Orte der "betriebsinternen Personalspeisung" durch identische Grundkonstanten verbunden, die den Vergleich und die künstlerische Intervention erst spannend machte. "mundgerecht" verschob und veränderte Funktionen und Bedeutungen, überhöhte Spezifisches und mischte sich in Abläufe und Gewohnheiten ein. Die Arbeiten der Künstler und Künstlerinnen bezogen sich direkt auf die im Speisesaal repräsentierten Ausschnitte der Arbeitswelt des jeweiligen Betriebes. Tonia Kudrass hatte über die Lehnen aller 365 Stühle im Hauptraum des Siemens-Kasinos Jackets gehängt, 365mal das deutliche Zeichen: dieser Sitzplatz ist besetzt. Die Arbeit von Sabine Mohr verband alle Ausstellungsorte miteinander. Sie griff das Phänomen der festen Gruppenbildung auf: immer die gleichen Mitarbeiter gehen zur gleichen Zeit gemeinsam Essen, meist am gleichen Tisch. Aus jedem Unternehmen suchte sich Mohr eine solche Gruppe, ging mit ihnen in den anderen Kantinen essen, fotografierte die bestehenden wie die neuen Situationen und ermöglichte ein Kennenlernen der Gruppen untereinander. Während der Ausstellungsdauer waren die Fotodokumente in den jeweiligen Kantinen ausgehängt. Annette Venebrügge stattete die etwa 20 Meter lange Fensterwand der Kantine im Ziviljustizgebäude mit sieben Vorhängen neu aus: 490 Frühstücksbeutel, in denen 490 farbige, zum Teil mit einzelnen Großbuchstaben bedruckte Papiere steckten, legten ein korrektes und gleichförmiges Raster über die Fensterfront und konservierten so volkstümliche Grundsätze wie "Voller Bauch studiert nicht gern" oder "Fett schwimmt oben". Das Besondere dieser Ausstellung, an der insgesamt 11 Künstlerinnen und Künstler aus Österreich, der Schweiz und Deutschland teilnahmen, war, daß sich die Interventionen der Künstler nicht primär an ein Kunstpublikum, sondern an die alltäglichen Kantinennutzer - also ganz spezielle Teilöffentlichkeiten - richteten. Da bis auf die öffentliche Kantine in dem Ziviljustizgebäude alle Betriebsrestaurants der großen Firmenvertretungen nicht nur wegen der aufwendigen Sicherheitsbestimmungen für die Öffentlichkeit unzugänglich sind, wurden zu festen Zeiten öffentliche Führungen angeboten. |
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A. K. | |
Zorah Mari Bauer, "Ordnungssysteme", im Kasino von Siemens Rolf Bier, "Zapping Profession", im Kasino von Siemens Susi Juvan, "Fische im Netz", im Betriebsrestaurant der Hanse-Merkur Versicherungsgruppe Tonia Kudrass, "Nicht Fisch noch Fleisch", im Kasino von Siemens Sabine Mohr, "Umsetzen", im Kasino von Siemens, in der Kantine vom Ziviljustizgebäude und in den Betriebsrestaurants von Unilever und der Hanse-Merkur Versicherungsgruppe Boris Nieslony, "Der Gast da, dort am Tisch", im Kasino von Siemens Matthias Schamp, ohne Titel, in der Kantine vom Ziviljustizgebäude Thomas Stordel, "Chemical Brothers", im Kasino von Siemens Annette Venebrügge, "Ordnung halten", in der Kantine vom Ziviljustizgebäude und im Betriebsrestaurant von Unilever Robert Zahornicky, ohne Titel, in den Betriebsrestaurants von Unilever und Hanse-Merkur Versicherungsgruppe
Tonia Kudrass u. a. (Hg.): Mundgerecht. Kunst in vier Hamburger Kantinen, Hamburg 1997 |