Rauminstallation, bestehend aus Fotoleinwänden, Zetteln, Zeichnungen, Skizzen, Fotos,
Objekten, Fundstücken, Texten und Schaukästen. Im Zentrum der Arbeit steht eine 2,50
Meter hohe menschliche Figur, um die mehrere Schaukästen und große Fotoleinwände gruppiert
sind.
Vermummte im Rathaus in Altona ganz alltäglich. Sogar gleich mehrfach und in unterschiedlichen
Größen stehen sie mit erhobenem Arm im linken Teil des Eingangsbereichs und das schon seit 1991.
In zahlreichen Varianten dominieren sie das vielschichtige Ensemble "Pathosgeste", das die
1993 im Alter von nur 53 Jahren gestorbene Hamburger Künstlerin Anna Oppermann noch
eigenhändig aufgebaut hat.
Eine historische Entsprechung findet die "Pathosgeste" draußen vor dem 1898 eingeweihten
Rathaus: Am Fuß des Reiterstandbildes von Kaiser Wilhelm I. erhebt die Personifikation
des siegreichen Preußen den Arm. Doch diese vergrünspante Symbolsprache wird so wenig
eines verstehenden Blickes mehr gewürdigt, wie das rechte Drittel der Vorhalle mit dem
Denkmal für die im ersten Weltkrieg getöteten Stadtbediensteten. Aber auch Anna Oppermanns
individuell-lexikalische Bild- und Textschichtung auf der gegenüberliegenden Seite ist - bei
aller Aktualität - ein schwerer Stoff für ein Kunstwerk im öffentlichen Raum, erfordert sie
doch vom zeitgestressten Passanten lesende Aufmerksamkeit.
Das seit 1984 bearbeitete Ensemble "MGSMO Mach große, schlagkräftige, machtdemonstrierende
Objekte", dessen Wurzeln zurück bis 1979 reichen, brauchte nicht nur Zeit zu wachsen, es ist
in seinen fast biologisch angelagerten Zuständen geradezu ein Speicher von Zeitschichten und
es braucht Zeit, es zu verstehen. Die zahlreichen Textzitate stammen wie Anna Oppermann
auflistet, aus den Begriffsfeldern "Pathos, Suggestion, Manipulation, Geld-Macht-Beziehungen,
Überzeugungs-, Werbe- und Verkaufsstrategien, Zeitgeist, Postmoderne, Verpackung ...".
Auf der documenta 8, wo das Ensemble 1987 erstmals gezeigt wurde, wirkte es als
ironischer Kommentar zu den Auswüchsen des Kunstbooms, in den schon durch die
Architektursprache pathetischen Räumen eines traditionsbezogenen Rathauses als
Ort von Macht werden neue Kontexte gewonnen.
Ganz im Sinne ihrer Methode hat Anna Oppermann in Altona Ergänzungen vorgenommen.
In den Kämpfer-Kartuschen über den Kapitellen der Pilaster dieser neoklassizistischen
Architektur finden sich nun tragende Begriffe deutschen Funktionierens: 'Disziplin',
'Ordnung', 'Sauberkeit' und 'Bürokratie' manifestieren in roter Schrift die ebenso
erfolgreichen wie gehassten, gelegentlich gar mörderischen Sekundärtugenden zu
Stützen des Staatsgebäudes. Auch die Geste des erhobenen Arms gewinnt an politischer
Bedeutung. In der Schwebe zwischen wütend drohend und sendungsbewußt verkündend wird
sie zum Superzeichen einer gesichtslosen, diffusen Argumentationsverstärkung, die hier
wie überall in der Gesellschaft die Rede wie das Geschwätz gleichermaßen begleitet.
Die einzigartige Produktionsmethode ihrer Arbeiten beschreibt Anna Oppermann so:
"Es fing an mit dem konventionellen Vorhaben, mit Hilfe des aufgebauten Stillebens
ein Bild zu finden. Nach dem Stilleben habe ich Zeichnungen gemacht, Kompositionsskizzen.
Nach Fertigstellung des Bildes blieb das Bild neben dem Stilleben stehen, auch persönliche
Notizen, Skizzen, das Zitat aus einem Buch, in dem ich gerade las, kamen hinzu. Ich wollte
mich nicht entscheiden, was im Hinblick auf die Aussage wichtiger oder als besser gelungen
zu bezeichnen sei: das reale Objekt, die Skizze, die gedankliche Auseinandersetzung, oder
das fertiggestellte Bild. Jedes Teil hatte etwas, was dem anderen Teil fehlte."
In der ausufernden Schichtung der verschiedenen Reflexionsebenen zu gleichgewichtigem
Nebeneinander fand Anna Oppermann ihre Problemlösung. Parallel ausgehend von einer
Bildfigur und einer Naturform (hier die Tulpe) entsteht eine ganze Bildbibliothek
subjektiver und sprunghafter Annäherungen, näher einem Mind-Map der Organisationspsychologen
als dem traditionellen Kunstwerk.
In dem zugleich individuell komponierenden und veröffentlichenden Zuordnen von
Bild- und Textbausteinen ist die Arbeit Anna Oppermanns verwandt mit dem Prinzip der
Denkräume, die der Hamburger Kulturwissenschaftler Aby M. Warburg in den Zwanziger
Jahren in den Bezügen seiner Bildtafeln ausbreitete. Anna Oppermann gewinnt zu solchen
Bilderbrücken die Dreidimensionalität und die subjektive Veränderung in der Zeit. Als
Künstlerin versucht sie gar nicht erst, wissenschaftliche Objektivität zu erzwingen.
Jeder künstlerische oder denkende Zugriff auf die Welt ist als individuelle Leistung
aber zugleich ein Angebot an andere, das macht das Wesen der Kultur aus.
"Sie denken etwas und fühlen doch, es hat ein anderer den Gedanken gedacht ..." Wenn
Anna Oppermann hier aus der "Allgemeinen Psychopathologie" zitiert, 1913 vom späteren
Philosophen Karl Jaspers geschrieben, bekommt dies eine neue, medienkritische Qualität:
der hier vorgeführte endlose Rekurs der Gedanken ist schon von einem spezialisierten
Einzelnen schwer zu bewältigen, als maßlose Informationsmenge droht er die Gesellschaft
zu überfordern.
Was hier in den analogen Materialien Skizze und Photographie, Text und Fundstück, Ölbild
und Aufsteller, Schaukasten und überarbeitete Photoleinwand realisiert ist, entspricht in
der heutigen Sprache der Computer einer Datenmenge mit Hyperlinks und Konfigurationsspur.
Es ist evident, daß es so nicht mehr zu einem in klassischem Sinne fertig abgeschlossenem
Werk kommen kann.
Auch was hier im Rathaus zu sehen ist, ist nur ein möglicher Zustand, eingefroren
und hinter Glastüren als Angebot konserviert. Ohne Hemmungen muß der mündige Betrachter
sich einen unvollständigen Teil herauspicken und ihn durch seine eigenen Gedanken ergänzen.
Es liegt im Wesen der Kunst, daß dies nicht real, sondern nur in Gedanken geschehen kann.
Aber ein frischer Gedanke: das ist nicht das Schlechteste, was man von einem doch oft
frustrierenden Gang zu den Amtsstuben eines Rathauses zurückbringen kann.
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