Thomas Schütte
"Tisch mit 12 Stühlen"
1987
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mehrteilige Skulptur: ovaler Granittisch mit 12 gemauerten Stühlen, Gesamtobjekt 4 x 6 Meter


Im Grün der Vorstadt steht eine Gruppe backsteingemauerter Throne. Im neuen Stadtteil Niendorf-Nord ist fast alles aus Klinker, so daß Stühle aus dem gleichen, norddeutschen Material passend scheinen. Nur wenig erhöht, seitlich des Parkweges zur U-Bahn-Station, stehen neben der jungen Baumachse mit den hastenden Menschen die zwölf Klinkerstühle ruhig, fest und etwas altertümlich um einen großen ovalen Granittisch. Die getreppten, hohen Lehnen kommen wie gotische Backsteingiebel aus mittelalterlichen Fernen. Wer hier Platz nimmt, wird zu einem Mitglied der Artusrunde, kann sich zu den Idealen träumen, sich ritterlich für das Gute einzusetzen und mit Stärke, Weisheit und Mitleid einst den Gral zu finden.

Die Plätze in dieser archetypischen Sitzordnung ­ die Zwölfzahl ist seit jeher hochgradig determiniert ­ sind mit kleinen Messingschildern bezeichnet: 'Kurt Schill', 'Ernst Mittelbach', 'Hanne Mertens' ..., der angelsächsisch-wagnerianische Traum kommt so doch etwas ins Stocken. Die Namen scheinen aus der Gegenwart zu stammen: Wer sind die herausgehobenen Menschen, denen diese Throne reserviert sind, welche Gruppe von Gerechten wird hier nobilitiert?

Da auch die umliegenden Straßen die gleichen Namen tragen, muß von einem mitgebrachten Vorwissen ausgegangen werden. Als Objekt im Raum kann das Kunstwerk zwar eine Vielzahl von Konnotationen anbieten, aber keine eindeutige Antwort geben. Die Antwort wäre möglicherweise in den Akten zu finden, die ganz sicher den großen Tisch füllten, würde er für eine Konferenz genutzt. Vor allem aber ist sie im Gespräch zu finden, in dem die imaginären Mitglieder dieser Runde vorstellbar sind und das die realen Menschen aufnehmen können und weiterführen sollen.

Der Kern der Skulptur ist ihre leere Mitte, ihr Herz ist die imaginäre Schnittmenge der Dialoge über das, was war und was sein könnte. Damit kommt "Kunst im öffentlichen Raum" zugleich nahe an ihre Selbstauflösung und zu ihrem wesentlichsten Sinn. Denn ein ästhetisches Objekt hat nur Bedeutung in dem Gespräch, das es über sich und seinen Zweck auslöst. Das macht die Art der Manifestation im Raum kaum mehr sinnvoll überprüfbar. Aber der "Tisch mit zwölf Stühlen" inszeniert nicht seine eigene Überflüssigkeit, er bleibt als Versammlungsplatz vor Ort und zieht immer wieder das Publikum ins Gespräch, ein Anliegen, dem sich fast zeitgleich auch das spektakulärere "Harburger Mahnmal gegen Faschismus" von Esther Shalev-Gerz und Jochen Gerz verschreibt.

Hier sind es paradoxerweise gerade dreizehn Möbelstücke, die die vielbeschimpfte Stadtraum-Möblierung vermeiden. In der steinernen Übertragung gibt der so starre Backstein den Rahmen für eine fast imaginäre Gesprächs-Skulptur, in der überhaupt erst Formen für Möglichkeiten eines Gedenkens gefunden werden. Denn auch hier geht es bei aller Zurückhaltung gegenüber dem eigentlichen Anliegen nicht um beliebige Gedanken, sondern um die Erinnerung an ermordete Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Entstanden ist ein Denkplatz, der, auch wenn er nur bespielt wird, bereits die Frage nach der Grundlage sozialer Formvorgaben einüben kann. Der Sinn der Inszenierung kommt nicht hoheitlich mahnend daher, das Gedenken an die Opfer ist zugleich manifest und latent, steinern festgemauert und auffordernd wartend auf persönliche Verlebendigung.

Bei allen bis zur Apostelgemeinschaft und dem Jahreszyklus zurückgehenden Konnotationen erlaubt sich das Denkmal spielerisch in den Alltag einzugehen, bis sich fast beiläufig die Frage nach dem Sinn dieser Sitzgruppe ergibt. Doch das Risiko, allein der impliziten Evidenz der Skulptur zu vertrauen, erschien bei einer Gedenkstätte zu groß: so trägt der zwölfte Stuhl den Gebrauchshinweis, der das Konzept nochmals versprachlicht:
"Diese Gedenkstätte wurde zur Erinnerung an ermordete Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus geschaffen, nach denen hier in der Umgebung die Straßen benannt sind. 11 der Stühle tragen die Namen der verfolgten Antifaschisten. Der 12. freie Stuhl symbolisiert den Besucher dieser Stätte, der sich mit dieser Gruppe identifiziert. Der Besucher ist eingeladen, der Widerstandskämpfer zu gedenken und die Anlage in diesem Sinne zu benutzen."

Hajo Schiff


Literatur:

Volker Plagemann (Hg.): Kunst im öffentlichen Raum, Köln 1989

Thomas Schütte: Skizzen und Geschichten 1990 - 1995, Düsseldorf 1995


Weitere Arbeiten:

1982 Teilnahme am Projekt "Halle 6"

1986 "Tor", Teilnahme am Projekt "Jenisch-Park Skulptur"

1995 Gedenkhaus KZ Neuengamme




Standort:
Niendorf-Nord, Ecke Nordalbinger Weg / E.-Mittelbach-Ring / K.-Schill-Weg - U-Bahn-Linie U2, Station Niendorf-Nord

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