KLaus Kumrow
Ohne Titel (Sänfte)
1986/1991
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1988 sahen sich die Besucher der documenta 8 mit einer mächtigen, über zwei Meter hohen und vier Meter langen Sänfte konfrontiert. Mitten im Freien wirkte sie auf den Kasseler Fridericianeum-Auen wie beiläufig abgestellt und im Stich gelassen. Bei näherem Hinsehen verstärkte sich der Eindruck ihrer 'deplazierten' Lage. Sie stand in einer bassinähnlichen Wanne mit einem Geländer, das an eine Stadionarchitektur erinnerte. In ihrem durch blau getöntes Glas einsehbarem Inneren kam Architektonisches zum Vorschein: eine liegende, halbe Burgzinne, zwei überdimensionale Briefumschläge in Form von entsprechenden Rohbauten aus Pfeilern und Verstrebungen, sowie Teile der Gesamtkonstruktion, die von außen nach innen eindrangen. Von 1991 bis Mai 2000 fand die Sänfte einen Standort seitlich der nördlichen Deichtorhalle in Hamburg. Das neue Umfeld änderte allerdings wenig am generellen Eindruck: auch hier wirkte die Sänfte wie falsch geparkt.

Bereits 1983 hatte Klaus Kumrow (geb. 1959) die Sänfte (die Skulptur ist unbetitelt) in einem kleineren Maßstab ausgeführt. Seine Arbeit gilt damit als eines der frühesten Zeugnisse für das neu aufgekommene Interesse an der Skulptur in den 80er Jahren. Charakteristisch für diese war unter anderem ihre Refunktionalisierungs-Tendenz: Die Skulptur konnte funktional ­ zumeist in einem architektonischen Sinne ­ vereinnahmt werden. Auch Kumrow führt eine solche Refunktionalisierung vor, um sie aber im selben Moment wieder zurückzunehmen. Sowohl das Vehikel der Sänfte, als auch die architektonischen oder postalischen Elemente suggerieren eine Funktionalität, die sich aber bei näherem Hinsehen selbst aufhebt. Im übrigen geschieht die Andeutung der Funktionen eher beiläufig. Die Sänfte besticht mehr als Form einer imaginären Skulptur, die sich realer Elemente bedient. Vergangenheit und Gegenwart gehen in ihr eine eigentümlich architektonische Symbiose ein.

Zerlegt man die Sänfte in Gedanken in ihre Einzelelemente, offenbaren sich auf mehreren Ebenen unterschiedlichste Gegensätze. Zunächst fallen die Größenverhältnisse auf. Gigantisches, wie die Stadionarchitektur, wird miniaturisiert, Kleines, etwa die Kuverts, lupenartig vergrößert. Vor allem aber sind die Gegensätze durch ihre inhaltlichen Vorgaben geprägt. Da steht die Sänfte, Symbol einer hierarchischen Gesellschaft, inmitten einer Architektur für die demokratisierte Masse, dem modernen Stadion. Und im selben Moment befördert dieses hochgradig elitäre Transportmittel das allen zur Verfügung stehende Kommunikationsmittel des Briefes. Kumrow veranstaltet ein Wechselbad der Verkehrsformen, eine verschränkte Korrespondenz aus elitärem Privileg und demokratischen Massenformen. Das eine geht ins andere über, wie auch Teile der Sänftenkonstruktion von innen nach außen oder umgekehrt führen.

Es sind gerade diese wechselseitigen Bezüge aus unterschiedlichsten Verkehrsformen, die die Sänfte wieder in ihren Ort einbinden. Auch an den Deichtorhallen führen zahlreiche und ebenso ungleiche Verkehrsströme vorbei: die Autobahnzubringer, die Eisenbahn und nicht zuletzt das Kunstpublikum; Ströme im übrigen, die fliessen, sich aber auch stauen und zum Stillstand kommen können. Eine derartige "Einbindung" funktioniert allerdings nicht mehr im Rahmen eines geschlossenen Systems. Ihr Sinn ergibt sich gerade aus der Disparität und Überlagerung moderner Verkehrsströme.
Wolf Jahn


Literatur:

documenta 8, Kassel 1986

Heiderose Langer; Siegfried Salzmann; Volker Rattemeyer (Hg.): Klaus Kumrow. Aquarelle 1981 - 1992, Kunsthalle Bremen / Museum Wiesbaden, Bremen 1993


Weitere Arbeiten:

1982 Teilnahme am Projekt "Halle 6"
1986 Teilnahme am Projekt "Jenisch-Park Skulptur"

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