Gerd Stange
"Verhörzelle"
1990
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ausgegraben - eingegraben
ein Denkmal für die Geschwister Scholl und allen Opfern des Faschismus

"Nichts ist unsichtbarer als ein Denkmal" (Robert Musil)

Im Herbst 1988 entdeckte Gerd Stange bei einem Elbspaziergang am Strand von Övelgönne im Sand ein Stück Blech, das sich beim Graben als Wehrmachtshelm entpuppte. Ganz in der Nähe ragte ein Stück Treibholz heraus. Die beiden Fundstücke waren Auslöser einer Idee, an deren Verwirklichung der Künstler ein Jahr lang besessen und gegen immer neue Widerstände arbeitete.

Das Sammeln war für Stange bis dahin, was die Fingerübungen für den Pianisten sind. Wohin immer sein Blick wanderte, suchte er, ordnete zu oder trennte, was nicht zueinander gehörte. So bewirkte am Övelgönner Strand, wo Wellenschlag und Gezeiten Ihre Spuren hinterlassen und der Blechhelm in der Nähe eines Bunkers bei Stange so etwas wie eine Bildstörung. Während Helm und Treibholz in seinem Atelierraum zu immer neuen Kombinationen auf einem Sockel arrangiert wurden und der Künstler auf einem Stuhl davor sitzend die Möglichkeiten prüfte, gewann für ihn der Helm Lebendigkeit, wurde zum Ankläger oder Folterknecht, während er selbst die Rolle des Opfers übernahm.

Die Suche in der Vergangenheit führte Gerd Stange in das Oberlandesgericht, wo er mit Hilfe des Pförtners den ältesten Stuhl des Hauses fand. Man war bereit - im Tausch gegen ein Foto der Installation "Die Arche Noah mit zwei Schafen" von Gerd Stange - den Stuhl herauszugeben. In den folgenden Sitzungen im Atelier verschwand der Helm vom Sockel, rückte dem Künstler in der Opferrolle immer näher, bis er unter dem Stuhl lag. Die fiktive Geschichte gewann erschreckende Realität. Und für Gerd Stange stand die Gestaltung seiner Installation fest. Zunächst dachte er an einen Ort im Oberlandesgericht, aber der Plan scheiterte am Widerstand der Justizbehörde. So kam Stange auf das für ihn Naheliegende: die Geschwister-Scholl-Straße. Im zähen Ringen konnte er die Kulturbehörde Hamburg zur Unterstützung des Projektes gewinnen, dazu noch die Weiße Rose Stiftung, die SPD und die Gal, Mittel wurden zur Verfügung gestellt, um das Material zu kaufen. Alles andere - hunderte von Stunden, um das Erdreich auszuschachten, eine Stromleitung zu verlegen, ein Gitterrost und eine Stahlkammer zu verschweißen (nach den Körpermaßen des Künstlers: Augenhöhe 180 cm, Mundhöhe 170 cm, Stuhlbreite 54 cm), eine Panzerglasplatte zu bearbeiten und so weiter - waren das unbezahlte Werk von Gerd Stange, seinen Freunden und hilfsbereiten Handwerkern.

Am 1. Oktober 1990, zwei Tage nach der Vereinigung der alten und neuen Bundesländer, war die Verhörzelle in den Gehweg eingegraben, hinter einer Parkbank zwischen Sträuchern. Für manche ein Ärgernis und Anlaß zu rechtsradikalen Äußerungen, für viele Anwohner jedoch eine neue und eindrucksvolle Art ein Denkmal für die Opfer des Faschismus zu gestalten: statt einer heroischen Sockelskulptur, etwas, wonach man sich bücken muß. Was sich den Blick nicht aufdrängt, sondern wonach man sucht oder worauf man zufällig stößt. Und das auf diese stille Weise Eindruck hinterläßt, besonders, wenn es nachts im stillen Schein der Glühlampe auftaucht.

Thomas Sello



Literatur:

Museum für Hamburgische Geschichte (Hg.): Gerd Stange. Weitergraben. Graben als künstlerische Strategie, Hamburg 1996


Weitere Arbeiten:
1995 Subbühne, in Zusammenarbeit mit Michael Batz
1996 "Rhythmische Babylonische Wasserskulptur", in Zusammenarbeit mit Michael Batz
1997 Nachdenkmal "Schützengraben - Soldatengrab"

Standort: Geschwister-Scholl-Straße, Ecke Erikastraße - Nähe U-Bahn-Station Kellinghusen Straße, U-Bahn-Linien U1/U3

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