Raimund Kummer
"mater perlarum"
1989
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Aluminiumguß, Trompetengold, Perlmuttimitat (Hypoxydharz), circa 1,10 x 0,80 x 2,75 Meter


Inmitten der dschungelgleichen Fauna des tropischen Gewächshauses im Park Planten un Blomen hat sich ein überdimensionales Opernglas verloren. Gestützt auf seinen Lorgnongriff liegt es zwischen exotischen Pflanzen. Doch die hier kultivierte Wildnis will ebenso wie der reale Urwald mit suchenden Blicken durchforstet werden, um das Okular ausfindig zu machen. Schließlich entdeckt es der Suchende nahe des Tümpels hinter der Eingangstür. Links des Wassers und ein wenig nach hinten versetzt, lukt das leicht bemooste Relikt wie ein archäologischer Fund durch das dichte Blattwerk. Was eigentlich der Suche und besseren Nahsicht dient, muß selbst mühsam erspäht werden. Zu entdecken ist es aber auch durch ein Schild, das in Typographie und Aufmachung den Kennzeichnungen der hier ausgestellten Pflanzen ähnelt. "mater perlarum", die ihm eingeschriebene Bezeichnung, orientiert sich dabei sogar am Latein als der Fachsprache der Botanik.

"mater perlarum", realisiert im Rahmen des "Hamburg Projekt 1989", bildet eine von mehreren Arbeiten Raimund Kummers mit Operngläsern. So plazierte er auf den Foyerstufen eines Melbourner Theaters ein weiteres überdimensioniertes Opernglas. Er stellte damit einen unmittelbaren Bezug zur Bühne her, indem er das Mittel gleichsam in den Zweck verwandelte: Was dem Vergrößern und besserem Erkennen dient, wurde nun selbst vergrößert, um es besser wahrzunehmen. Auch im New Yorker Brooklyn Museum stand ein Exemplar des Glases in seiner Antikenabteilung.

In allen drei Fällen thematisiert Raimund Kummer Erfahrungsräume, die entweder kulturelles oder wissenschaftliches Interesse ausfüllen: das Theater, die Geschichte (Museum) oder, wie in Hamburg, die vom Menschen künstlich angelegte Natur. Das Glas selbst verweist dabei in seiner Eigenschaft als optisches Instrument auf die analytische Methodik dieses Interesses. Ob Natur oder Kultur, das aufklärerische Interesse an beiden wird vor allem mit den Mitteln der wissenschaftlich-fundierten Einsicht in sie und ihrer anatomischen Zergliederung begründet. Was der Mensch, seine Kultur und die Natur ist, soll der fast röntgen-ähnliche Einblick in sie beantworten. In seiner luxuriösen Aufmachung ist das Opernglas darüber hinaus ein beredtes Symbol für die Erwartungshaltung, die hinter diesem analytischen Blick steht. Auch sein Name, auf deutsch "Perlmutt", verspricht Kostbares und Wertvolles.

In seiner detailgetreuen und zugleich überdimensionierten Nachbildung bietet "mater perlarum" eine Fülle an möglichen Deutungen. Dem Kunstfreund wird der Surrealist René Magritte einfallen, der mit ähnlichen Verschiebungen von Größenverhältnissen in seinen Bildern immer wieder die Ordnung einer auf wissenschaftlichen Fakten fundierten Wirklichkeit in Frage stellte. Demgegenüber aber ist Kummer mehr an den Mitteln als an den Ergebnissen dieser Wissensgewinnung interessiert. Nicht was, sondern wie wir etwas sehen, steht im Mittelpunkt seiner Arbeit, indem er das Instrument unseres Blicks wie ein Kunst- oder Forschungsobjekt ausstellt. Nicht zuletzt ist das Opernglas ja auch ein Mittel zur besseren Aneignung von Bildungswissen, wie es die Bühne par excellence anbietet.

Raimund Kummer, 1954 geboren, gründete in den 80er Jahren zusammen mit anderen Künstlern das Büro Berlin. Unter anderem wollte es in Form eines Produktionsbüros "Ideen realisieren helfen und künstlerische Manifestationen ermöglichen." Seine frühen Arbeiten realisierte Kummer desöfteren und zum Teil anonym im öffentlichen Raum, indem er subtile Eingriffe in vorgefundene Situationen vornahm. In den letzten Jahren arbeitet er zunehmend mit den Mitteln der Vergrößerung. Ein Efeuzweig, ein Kaviarei, Fotos von Sinnesorganen, etwa von den Geschmacksknospen der Zunge oder von einem Ohr, vergrößerte er ins fast Gigantische. 1996 fand sein Interesse am Sehen und an den Blicken einen vorläufigen Höhepunkt. Im Kunstverein Hannover stellte er überdimensionierte Augen in unterschiedlichen Glasmodellen vor: als Prothesen oder als Augäpfel samt der dazugehörigen Muskelstränge. Denn "das was sieht," so Raimund Kummer, "soll nun auch gesehen werden."
Wolf Jahn


Literatur:

Kulturbehörde Hamburg (Hg.): Hamburg Projekt 1989, Hamburg 1989

Kunstverein Hannover (Hg.): Raimund Kummer. corpus vitreum 1987 - 1996, Hannover 1996


Weitere Arbeiten:

1994 "Hauptbahnhof-Nord", in Zusammenarbeit mit Stephan Huber




Standort:
Park Planten un Blomen, Alter Botanischer Garten, im Tropenhaus - Bahnhof Dammtor, Fern- und S-Bahn-Anschlüsse (S21/S31)

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