Stephan Huber &
Raimund Kummer
"Hauptbahnhof-Nord"
1994
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1991 stellte die Hamburger Kunsthalle in ihrem Kuppelsaal eine Gemeinschaftsarbeit der Künstler Stephan Huber (geb. 1952) und Raimund Kummer (geb. 1954) vor. Die beiden Bildhauer hatten dort ihr "Firmament" installiert: gebogene und blau getönte Gläser hingen gleich herabstürzenden Himmelsstücken von der Decke hinab, während über den Boden verstreut fünfstrahlige Sterne lagen. Ihre Zacken waren teilweise gebrochen; ihre gußeiserne Schwere erinnerte an Meteoriten.

Drei Jahre später fand die zwischenzeitlich abgehängte Installation eine neue Heimat. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Kunsthalle wurde sie in einem unbenutzten U-Bahn-Tunnel der Station "Hauptbahnhof-Nord" neu aufgebaut. Seitdem verteilen sich die über hundert Sterne über die gesamte Länge der U-Bahn-Röhre hinweg. Die 'Himmelsstücke' ­ sieben an der Zahl ­ stürzen nun im Ostteil der Röhre aus allen Wolken und geben dem Fall eine eindeutige Ost-West-Richtung.

Der Titel der ersten Installation stand in einem offenkundigen Gegensatz zu ihrer Ausführung. Das "Firmament", die sichere und feste Architektur des Himmelsgewölbes war in sich zusammengebrochen. Das wäre, als würde ein Künstler das Bild einer Ruine auf den Namen 'erhabene Architektur' taufen. Doch lebte die erste Installation von der offenkundigen Paradoxie zwischen Titel und Ausführung. Der Himmel als Symbol einer tragenden Architektur unserer Gedanken, Ideen und Utopien, als krönendes Dach eines in seinen Festen uneinnehmbaren Weltgebäudes erwies sich alles andere als ewig und gesichert. Das vermeintlich Fundierte war (und ist) ein einziges Chaos.

Die zweite Installlation des "Firmaments" trägt den Namen ihres Ortes: "Hauptbahnhof-Nord". Beide Installationen waren bereits in der Konzeption der Arbeit miteingeplant und lassen sich damit als ein zeitlich versetztes Gesamtwerk auffassen. So gesehen vollzieht sich der 'Himmelssturz' zuerst in den Höhen eines Musentempels, der Kunsthalle, um schließlich in der Unterwelt des profanen Alltags sein unsanftes Ende zu nehmen: Durch einen unsichtbaren Krater hindurch hat sich das 'Erdreich' das 'Himmelreich' regelrecht einverleibt. Die hochfliegenden und kühnen Visionen der Menschen sind in den Schoß von Mutter Erde zurückgekehrt. Ihre Gedankenschwere hat sie Meteoriten gleich aus schwindelerregenden Höhen dem freien Fall übergeben.

Den Aspekt des 'Zusammen-' und 'Einbruchs' der ersten Installation hat die zweite damit um den des Verschwindens ergänzt. Der Fall des Himmels gleicht dem Fall in einen Kerker, der den Gefangenen für die Außenwelt unsichtbar macht. Darauf spielt auch die Tunnelröhre an, die die Künstler von ihrer Wandbekleidung befreit haben. Die darunterliegende gitterartige Eisenkonstruktion erinnert jetzt an einen verliesähnlichen Unterbau, einen Keller, dessen beide Ausgänge in das Netz der Unterwelt überführen.

Die aktuelle Installation legt eine Vielzahl an möglichen Interpretationen nahe. So kann der 'Fall' des Himmels gemäß der Tunnelausrichtung von Ost nach West nun auch als der Zusammenbruch ehemaliger Real-Utopien gelesen werden: Der sozialistische Osten ist implodiert, die Trümmer seiner Ideologie hageln auf den Westen nieder. Denkbar ist auch der Zusammenbruch des Himmels in Form eines Rückzugs. Wie in Kriegszeiten Kulturgut in unterirdische Stollen gebracht wird, um es in Friedenszeiten wieder ans Tageslicht zu holen, so mag auch der 'Himmel der Kultur' hier vorübergehend einen Schutzkeller aufsuchen. Für die Menschen, die täglich den "Hauptbahnhof-Nord" passieren, bekommt das Wort vom Geisterbahnsteig damit eine zweite Bedeutung: in der verlassenen U-Bahn-Röhre hausen die Geister unserer Visionen und Utopien, deren Zukunft wortwörtlich in den Sternen steht.

Wolf Jahn


Literatur:

Achim Könneke (Hg.): Stephan Huber. Raimund Kummer. Hauptbahnhof-Nord, Ostfildern-Ruit bei Stuttgart 1994

Uwe M. Schneede (Hg.): Stephan Huber. Raimund Kummer, Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1991

Kunsthalle Mannheim (Hg.): Stephan Huber. Bauplatz, Mannheim 1994

Kunstverein Hannover (Hg.): Raimund Kummer. corpus vitreum 1987 - 1996, Hannover 1996


Weitere Arbeiten:

1986 Stephan Huber, "Helden der Arbeit", Teilnahme am Projekt "Jenisch-Park Skulptur"
1989 Raimund Kummer, "mater perlarum", Teilnahme am "Hamburg Projekt 1989"




Standort:
Hauptbahnhof, stillgelegter U-Bahn-Tunnel, ohne Gleise, parallel zur Station Hauptbahnhof-Nord der U-Bahn-Linie U2, Richtung Schlump-Niendorf. Der Tunnel ist von beiden Zugängen und von der Mitte der Station aus einsehbar. - Hauptbahnhof, Eingänge zur U-Bahn-Station U2


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